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230 Volt

Heute möchte ich Euch von einem Stromschlag erzählen. Es war irgendwann im Jahr 1989/90, als ich begann, mich in die Freiheit zu begeben, nicht nur ich mich in die Freiheit begeben wollte. 16 Millionen Menschen, von mir aus betrachte hinter dem Eisernen Vorhang wohnend, wollten auch in die Freiheit. So wie ich, der aus dem Westen kam.

Ich wurde zu der Zeit kurz nach meiner Meisterprüfung wieder in dem Betrieb als angestellt, in dem ich das Tischlerhandwerk von der Pike auf lernen durfte. Dort war ich die verlängerte Hand vom 1. Mann hinter dem Chef. Hatte eigene Ideen, sah sehr viel Potential in dem Betrieb, sah überall Möglichkeiten Computer einzusetzen. Ich konnte mich dort nicht zur Gänze weiterentwickeln und wollte mein Schicksal selbst in die Hand nehmen, meinen eigenen Betrieb aufbauen.

So fing ich an, ich war als letzter meiner älteren Brüder noch zuhause, einen kleinen Teil des alten Stallgebäudes zu entkernen und wieder mit neuem Leben zu füllen. Ich hatte mir aus einer alten aufgelösten Tischlerei für schmales Geld Maschinen gekauft, alles Vorkriegsmodelle. Betriebsprüfer der Berufsgenossenschaft hätten die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Die Tischfräse wäre fast abgehoben, als ich diese das erste Mal startete…

…die elektrische Verkabelung des Gebäudes war aus den 50er Jahren, zu der Zeit wusste noch keiner, dass es mal Fehlerstromsicherungen geben würde. Alles wurde „genullt“, so hat es mir mein Bruder, gelernter Elektriker, nachher mal erklärt.
Das Metallgehäuse elektrischer Verbraucher wird, wenn es keinen Schutzleiter gibt, das ist der „GrünGelbe“, genullt, der Nullleiter wird auch mit dem Gehäuse verbunden. Das hat den Vorteil, falls das stromführende Kabel, die Phase, aus Versehen mit dem Metallgehäuse in Kontakt kommt, zumindest die Sicherung auslöst und den Stromfluss unterbricht. Zu dem Zeitpunkt, als ich mir aus einer alten Neon-Deckenleuchte mit Metallgehäuse eine mobile Handlampe gebaut hatte, wusste ich das noch nicht. Der Junge vom Lande, der immer offen für neue Erfahrungen war, probiert halt aus, „learning by doing“, so heißt es neudeutsch.

So geschah es, dass ich auf dem Dachboden mit der eingesteckten „Kabellampe“ in der einen Hand und die Kabeltrommel mit Metallgehäuse in der anderen. Die Phase lösste sich aus der Klemme in der Kabellampe und verschmolz umgehend mit dem Metallgehäuse, keine Sicherung lösste aus….

…ich blieb wie angewurzelt stehen, dabei zitternd mit einer Frequenz von 50 Hz. Die 230 Volt Wechselstrom liefen jetzt von Hand zu Hand, durch Arme, Schultern und Lunge, quer durch meinen Körper hin und her. Nicht durchs Herz, ich hatte Gummistiefel an.

Wie fühlt sich das an, wenn man mit 50 Hz, so oft wechselt Strom seine Richtung in jeder Sekunde, durchflutet wird. Wie würde sich das für dich anfühlen, wenn du dort schnell vibrierend stehst und versuchst deine Hände zu öffnen, die Impulse über die Nervenbahnen das Ziel nicht mehr erreichen? Du versuchst wieder und wieder deine Hände zu öffnen. Dein Kopf ist dabei klar, im klarsten Gedanken daran, dass dies dein Ende sein wird.
Ich kann dir sagen, es ist gar nicht so schlimm, ich hatte keine Angst. Mir lief in Sekundenschnelle mein ganzes Leben vor Augen ab, immer noch krampfhaft versuchend meine Hände zu öffnen, es gelang nicht…irgendwann fiel ich ohnmächtig zu Boden.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag, wann mich einer gefunden hätte, falls ich meine Augen nicht mehr geöffnet hätte. Meine erste Tochter war knapp ein Jahr alt, meine Frau mit dem 2. Kind schwanger. Hätte sie mich gefunden, oder mein Vater, meine Mutter lebte zu der Zeit schon nicht mehr.

Irgendwann öffnete ich meine Augen, stellte fest, dass ich noch lebe. Aufstehen konnte ich nicht. Stumpfe Schmerzen in meinen Schultern lasteten so schwer, als lägen die Trümmer eines Hauses auf mir…

…mal sehen, wann ich die Fortsetzung schreibe.

Verliert nicht euren Mut, diese Zeit geht irgendwann vorbei, da bin ich mir ganz sicher.

Munter bleiben, Euer h.Art.mut